Geschlechtliche Identität
Die Suche nach geschlechtlicher Identität
Mit dem Begriff „Geschlechtsidentität“ wird das Gefühl bezeichnet, männlich, weiblich oder divers zu sein (weder weiblich noch männlich). Ein grundlegendes Gefühl hierzu entsteht bereit bis zum dritten Lebensjahr. Im Jugendalter gewinnt die Suche nach der eigenen geschlechtlichen Identität eine neue Dynamik. Es wächst der Wunsch nach Intimität und auch die Lust, den eigenen Körper in einer neuen Weise zu entdecken. Das Interesse an sexuellen Themen nimmt zu und die Frage, wen man liebt und zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, wird bedeutsam.
Zwischen Neugierde, Begehren, zeitweise massiver Irritation, manchmal auch Ekel gegenüber sexuellen Handlungen spielt sich der weitere Aufbau der eigenen geschlechtlichen Identität im Kontext realer Kontakte und sozialer Medien ab. Der spielerische Umgang und das Ausprobieren spielen gerade im Jugendalter eine große Rolle. Die Möglichkeiten hierzu sind nach wie vor durch normierende und geschlechterrollenstereotype Erwartungen ungleich verteilt bzw. gesellschaftlich ungleich bewertet. So werden sexuelle Kontakte von jungen Männern mit verschiedenen Partnerinnen immer noch positiver betrachtet, als dies bei jungen Frauen der Fall ist oder bei gleichgeschlechtlichen Kontakten. Dies widerspricht der Gleichberechtigung der Geschlechter und dem Recht auf freie Entfaltung.
Es steht die Selbsterfahrung und das Herantasten an die eigene sexuelle Orientierung an, die sich nun noch einmal anders und bewusster gestaltet:
· Was bin ich?
· Wen kann ich lieben?
· Zu welchem Geschlecht fühle ich mich sexuell hingezogen?
· Habe ich Schmetterlinge im Bauch, wenn ich an einen bestimmten Menschen denke?
· Welches sexuelle Begehren habe ich?
· Bin ich o.K., wie ich bin? Alle anderen haben schon sexuelle Kontakte nur ich nicht?
· Bin ich überhaupt attraktiv und begehrenswert?
Dabei hat die geschlechtliche Identität und Sexualität viele Facetten. Die Auseinandersetzung mit der sexuellen Vielfalt und mit den Geschlechterrollen, der eigenen Geschlechtsidentität gehört zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.
Jeder Mensch hat das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Dieses Recht ist in der Charta der Grundrechte (Art. 21) der Europäischen Union und auch im Grundgesetz (Art. 2,2) verankert und offiziell darf niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Heterosexualität als Norm entsprach nie der Lebensrealität vieler Menschen und hat heute zugunsten der vielfältigen Erscheinungsformen geschlechtlicher Identität und sexuellen Begehrens ihre bindende Wirkung verloren. Trotzdem bestehen diese Normvorstellungen in vielen Köpfen fort. Diese erschweren es Menschen mit einer nicht heterosexuellen Orientierung, diese offen leben zu können.
Wissenschaftlich ist es längst erwiesen, dass es keine rein binäre Geschlechtlichkeit gibt. Damit ist einer binären Geschlechterordnung, die Menschen in Frauen und Männer einteilt, die biologische Grundlage entzogen. Eine binäre Gesellschaftsordnung und Heterosexualitätsnorm stellt eine gesellschaftlich-machtpolitische Ordnungskategorie dar, die heute kritisch hinterfragt und aufgebrochen wird. Denn das Leben ist viel bunter, vielfältiger und bringt Menschen hervor, die:
· das gleiche Geschlecht lieben und homosexuell oder lesbisch sind,
· die bisexuell sind und Männer wie auch Frauen lieben
· sich als nicht-binär erleben und weder dem weiblichen noch männlichen Geschlecht eindeutig zugehörig fühlen und auch nicht festgelegt werden möchten
· ein anderes biologisches Geschlecht aufweisen, als die äußeren Geschlechtsorgane vermuten lassen und die transsexuell sind,
· die intersexuell sind, d.h. sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane aufweisen und ganz individuelle Formen des sexuellen Begehrens haben
Die LGBTQI-Bewegung hat diesen Menschen eine Stimme verliehen und setzt sich für das Recht auf die Freiheit der sexuellen Vielfalt, einen diskriminierungsfreien Umgang in der Gesellschaft mit dieser und für eine Pluralität der Lebensentwürfe statt binärer Normalitätserwartungen ein.
Neben der Heterosexualität, Homosexualität und Asexualität gibt es auch die Pansexualität, bei der das biologische Geschlecht gegenüber der Liebe zum Menschen und in Bezug auf die Sexualität keine Bedeutung hat.
Sie möchten als Eltern, dass Ihr Kind glücklich wird?
Dann ist es ganz wichtig zu wissen: Die sexuelle Orientierung kann nicht frei gewählt werden oder gar korrigiert werden. Sie entsteht auch nicht durch familiäre Einflüsse oder Erlebnisse außerhalb der Familie. Sie gehört ganz einfach zum Wesen des Menschen.
Die Suche nach der geschlechtlichen Identität im Jugendalter ist schon bei heterosexuell orientierten jungen Menschen eine spannende Reise mit vielen Hochs und Tiefs. Verständnis, Aufklärung und Offenheit gegenüber der Suchbewegung junger Menschen sind wichtig, damit Jugendliche selbstbewusst und selbstbestimmt ihre sexuelle Identität entwickeln und auch verantwortungsbewusst leben können.
Im Jugendalter und der Adoleszenz stellt es sich als Entwicklungsaufgabe:
· die eigene geschlechtliche Identität positiv zu besetzen
· emotionale und sexuelle Intimität mit einer anderen Person eingehen zu lernen
· soziale Kompetenzen zu entwickeln und Grenzen anderer Menschen respektieren und achten
Je tabuisierter und restriktiver mit der aufflammenden Sexualität junger Menschen umgegangen wird, desto größer ist das Risiko, dass es zu psychosozialen Problemen, möglicherweise auch zu riskantem oder übergriffigem Verhalten kommt. Bei allen Geschlechtern, aber insbesondere bei jungen Männern, ist es wichtig, dass sie wissen, dass ein Nein auch ein Nein ist. Zu ihrem eigenen Schutz, aber auch zum Schutz der Partnerin (oder des Partners) muss klar sein, dass eine positiv gelebte Sexualität die Zustimmung des anderen voraussetzt.
Jugendliche müssen lernen, mit ihrem Körper, ihrem sexuellen Verlangen und einer Partnerin oder einem Partner achtsam umzugehen.
Dies vollzieht nicht nur eingebettet in einem gesellschaftlichen Kontext, sondern ganz konkret in einer Peergroup und engen Freundschaften, wo Jugendliche Themen besprechen, die sie vielleicht mit den Eltern nicht besprechen möchten.
Nach wie vor gestaltet sich der Selbstfindungsprozess homosexueller oder lesbischer junger Menschen oft schwierig. Sie spüren, dass sie ‚anders‘ sind. Sie sind innerlich aufgewühlt und müssen mit ihren Gefühlen erst einmal zurechtkommen. Sie haben oft auch Angst vor Ablehnung durch Gleichaltrige oder ihre Familie. Sie möchten einerseits so sein, wie alle anderen und zugleich auch anders sein, weil sie es so nicht empfinden. Nicht heterosexuell orientierte Teenager fühlen sich oft unverstanden, wissen selbst erst einmal nicht, was sie fühlen und denken sollen. Ihnen fehlen oftmals im nahen Umfeld Vorbilder und Gesprächspartner*innen.
Manchmal möchten die Jugendlichen ihre gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung selbst nicht wahrhaben, dem Umfeld zuliebe verdrängen und vermeiden. Sie kämpfen gegen sich selbst. Sie oder Familienangehörige versuchen die homosexuellen Gefühle rational zu erklären: als nur vorübergehend, nur weil sich noch nicht der richtige Partner gefunden hat…
Gerade bei Teenagern mit homosexueller Orientierung ist die Gefahr der Stigmatisierung und Diskriminierung durch Gleichaltrige oder Erwachsene hoch. Dies erhöht das Suizid-Risiko!
Zu den psychosozialen Risken von Jugendlichen bei der Suche nach geschlechtlicher Identität zählen z.B.:
· Schulprobleme/Schulversagen
· Mobbing(opfer)
· Depression
· Suizidversuche
· Gebrauch legaler und illegaler psychoaktiver Substanzen
· Essstörungen
· Schlafstörungen
· Risikoreiches Sexualverhalten
· Familienkonflikte
Der Prozess des sogenannten „Coming Outs“ verläuft oft kompliziert und kann mit vielen (grenz-) verletzenden Erlebnissen einhergehen. Gerade jene Jugendliche brauchen den Rückhalt ihrer Familie und die Familie als einen Ort, an dem sie so angenommen und geliebt werden, wie sie sind.
Es ist wichtig, dass Eltern den Kindern und jungen Menschen signalisieren, dass die Vielfalt an sexuellen Orientierungen normal ist und sie so sein dürfen, wie sie es fühlen! Vermeiden Sie jegliche Zuschreibung, auch wenn sie noch so gut gemeint ist. Es ist die Entscheidung Ihres Kindes, wem es sich wann „outen“ möchte.
Auch wenn sich der junge Mensch erst einmal verschließt, ist es wichtig, dass Sie es feinfühlig begleiten: Sich in diesem Bereich zu öffnen und zu „outen“ ist ein großer Vertrauensbeweis. Überlegen Sie sich, was sie sich an seiner Stelle als Reaktion wünschen würden? Sprechen Sie mit ihrem Kind, wie sie es bei seinem „Outing“ unterstützen können. Hilfreich kann hierbei auch die Bereitstellung von Informationen sein oder die Unterstützung sich an Beratungsstellen oder entsprechende Jugendgruppen wie z.B. Queerbeet Augsburg zu wenden.
Dabei wichtig sind eine verständnisvolle Aufklärung und Unterstützung gesundheitsbezogener Verhaltensweisen (Stichwort: HPV-Impfung, Schutz vor Geschlechtskrankheiten), die Förderung einer verantwortungsvollen Verhütung sowie die Förderung von einem sensiblen Umgang mit Grenzen. Hierzu gehören auch Themen wie der Umgang mit Sozialen Medien und intimen Bildern im Netz, den jugendschutzrechtlichen Altersgrenzen bei intimen Beziehungen, mit pornografischen Inhalten.
Dieser Rückhalt in der Familie gibt Kraft, um sein eigenes Leben und seine eigene geschlechtliche Identität zu finden und frei leben zu können.